Die große Unbekannte

Die Geographen tagen in Potsdam. Laien verwechseln diese Wissenschaft oft mit Erdkunde / Von Beate M.W. Ratter (29 IX 1995 - lag als Kopie an der Uni Trier aus)

In der kommenden Woche tritt in Potsdam der 50. Deutsche Geographentag zusammen. Auf dem alten Filmgelände in Babelsberg diskutieren Hochschulprofessoren, Schulgeographen und Diplomgeographen aus Wirtschaft und Verwaltung unter dem Motto „Aufbruch im Osten - Umweltverträglich, Sozialverträglich, Wettbewerbsfähig“. Doch dem breiten Publikum zu erklären, was Geographie überhaupt ist, damit hat die Zunft ihre Schwierigkeiten.

Nicht selten dominieren Schulerinnerungen an seitenweise auswendig gelernte Hauptstadtnamen oder metergenaue Längen- und Höhenangaben von Flußläufen und Gebirgszügen. Derartiger „Erdkundeunterricht“ machte vielleicht seinem Namen Ehre, nicht jedoch der Geographie als Wissenschaft. Selbst Studenten im dritten oder vierten Semester haben oft noch Schwierigkeiten, eine klare Antwort auf die Frage „Was ist Geographie“ zu geben. Und wenn ich mich jemandem als Geographin vorstelle, rufe ich meist nur erstaunte Verwunderung hervor. Während Mediziner oder Juristen nach ihrem Spezialgebiet gefragt werden, muß ich erläutern, was denn die Geographie als Ganzes für eine Wissenschaft ist.

Das öffentliche Interesse an der Geographie blühte vor allem in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts, as sich auch in der Gründung zahlreicher geographischer Gesellschaften niederschlug - so die Société Géographique de Paris 1821, die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 1828, die Royal Geographic Society, London 1830, die Imperial Russian Geographical Society, St. Petersbug, 1845, American Geographic Society, New York, 1851.

Mediziner werden nach ihrem Spezialfach gefragt. Geographen müssen erst ihre Wissenschaft erklären.

In den meisten Ländern verblaßte das öffentliche Bild der Geographie indes wieder. Insbesondere deutsche Geographen mieden nach den Zweiten Weltkrieg zunächst einmal die Öffentlichkeit - noch allzu lebendig waren die bösen Erinnerungen an die nationalsozialistische „Geopolitik“ und ihr Motto „Volk ohne Raum“. Bald brachten auch Intellektuelle Wilhelm und Alexander von Humbold durcheinander und verwechselten den Begründer der neuzeitlichen Geomorphologie, Ferdinand von Richthofen, mit seinem Namensvetter Manfred, dem „Roten Baron“, Kampfflieger im Zweiten Weltkrieg.

Zu einem Aufschwung des Fachs kam es hierzulande erst wieder in den sechziger Jahren, nämlich im Gefolge der quantitativen Revolution in den Sozialwissenschaften. Die technische Möglichkeit, riesige Datenberge per Computer zu verarbeiten, sollte neue geographische Wahrheiten hervorbringen. Eine rege Sammel- und Befragungstätigkeit setzte ein, sie häufte beispielsweise Angaben über Busverbindungen und Fahrtfrequenzen in Zentralguatemala und Daten über Pendlerströme in Oberfranken aufeinander. Wer sollte das alles auswerten - oder auch nur eine zweites Mal anschauen?

Auch die quantitative Geographie war bereits wieder Geschichte geworden, als ich anfing, mich mit geographischen Themen zu beschäftigen. Zur objektivistischen Geographie der sechziger und siebziger Jahre gesellte sich eine subjektiv orientierte, am Verhalten der Menschen im Raum interessierte Wissenschaft. Mit der sogenannten Verhaltensgeographie und ihrer späteren Weiterentwicklung zur humanistischen Geographie gegen Ende der achtziger Jahre, in der das Tun und die Lebenswelt der Menschen zentrales Untersuchungsobjekt wurde, vollzog sich erneut ein thematischer Sprung.

Dieser rasche Wechsel der Perspektiven ist eher für Sozial- als für Naturwissenschaften typisch. Und eine Naturwissenschaft ist Geographie nicht. „Geographie beschreibt, erfaßt und erklärt die Erdoberfläche in ihrem Ganzen und in ihren Teilen in Struktur, Funktion, Genese und Prozeß.“ Das sagte zumindest mein alter Professor Adolf Karger in Tübingen immer, wenn ein Student nicht schnell genug auf die „Was ist“-Frage antworten konnte. Die Geographie umfaßt sowohl natürliche Aspekte wie Klima, Boden, Vegetation als auch anthropogene Phänomene wie Städte, ländliche Siedlungen, Wirtschaft, Verkehr. Ihr Gegenstandsbereich wird dadurch so weitläufig, daß eine beschreibende Formel fast unmöglich wird.

Die Lösung des Rätsels liegt indes nicht im Gegenstand, sondern im Blickwinkel: Ob Klima oder Verkehrsgeographie, ob Geomorphologie oder die Geographie des Tourismus - entscheidend ist der Raumbezug, die gestaltende Wirkung des Menschen auf den Raum ebenso wie die Wirkung des Raumes auf das Verhalten des Menschen.

Geographie ist Forschung und angewandte Wissenschaft zugleich. Zum Beispiel beteiligen sich Geographen an der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) von neu zu bauenden Straßentrassen oder der Planung neuer Wohn- oder Gewerbegebiete. Raum- Regional- und Stadtplanung sind wichtige Arbeitsfelder der angewandten Geographie. Der im Mai 1995 von Minister Klaus Töpfer einberufene Bundestagsbeirat für Raumordnung besteht auch aus Geographen. Ein Diplomgeograph ist beispielsweise im Stadtmarketing einer süddeutschen Mittelstadt tätig, eine Vertreterin des Faches arbeitet als Fernsehkorrespondentin in Südostasien, ein anderer Kollege bereitet Investitionen in Großimmobilien vor. Geographen entwickeln Verkehrskonzepte für autoarme Innenstädte oder beschäftigen sich mit Forstwirtschaftsprojekten in Ländern der Dritten Welt. Sie sind im Umweltschutz tätig, gestalten Naturparks, sichern Biotope oder beteiligen sich an der Landschaftsplanung.

Geographen werden Spezialisten nie ersetzen, aber das ist auch gar nicht ihre Aufgabe. Sie sind für die integrierende Sicht zuständig. Wenn in einer Arbeitsgruppe Experten zusammenkommen, dann ist es nicht selten der Geograph, der zwischen den verschiedenen Sichtweisen am besten vermitteln kann.

Allzu häufig wird hier jedoch den Juristen der Vorzug gegeben, was sicherlich auch daran liegt, daß sie zum Argumentieren und Austarieren von Interessen ausgebildet werden. Doch ebenso, wie normativ argumentierende Juristen verschiedene Expertenkulturen zusammenführen können, vermögen in vielen Fällen gerade auch Geographen diese Brückenfunktion auszuüben - nur eben nicht mit Hilfe normativer, sondern räumlicher Kategorien. Die frustrierende Bevorzugung von Juristen beruht oft nur auf Unkenntnis des Potentials der Geographie als Integrationswissenschaft.

Ich denke, daß hier ein ernstes Defizit in der geographischen Ausbildung vorliegt. Rhetorik, Diskussionsverhalten und öffentliche Präsentation sowohl von Forschungsergebnissen als auch des Fachs im allgemeinen spielen nur eine untergeordnete Rolle. Und warum beteiligen sich Geographen nicht an der Diskussion über die modische These vom Bedeutungsverlust des Raumes aufgrund von modernem Flugverkehr und computergestützter Telekommunikation? Wo diskutiert die Geographie öffentlich über das Phänomen des Cyberspace?

Mitnichten hat die Datentechnik den Raum ins Abstrakte sublimiert. Wir bewegen uns auch heute im objektiven, konkreten Raum; unsere täglichen Handlungen wiederum werden von der subjektiven mental map im Kopf in vielerlei Hinsicht gesteuert. Im Jahre 1983 begründete die US-Regierung die Invasion der Karibikinsel Grenada mit der geographischen Nähe der kommunistischen Bedrohung - dabei liegt Grenada rein topographisch von Washington weiter entfernt als Moskau von Bonn. Und auch nach dem kalten Krieg wird weiterhin um Räume und deren Gestaltung gestritten, ob im ehemaligen Jugoslawien oder im Nahen Osten. Die politisch zentralen Themen der heutigen Welt sind oftmals auch geographisch.

Doch die Geographie sollte die Agenda der Politik nicht unkritisch übernehmen. Den Potsdamer Geographentag dominieren Fragen des Umbaus in Ostdeutschland und der Transformationsprozesse in Osteuropa. Unbestritten wichtige Themen, gewiß, aber wo ist die Dritte Welt geblieben? Wenn die deutsche Politik sie geradezu vergessen zu haben scheint - die Geographie muß ihr darin nun wirklich nicht folgen.

Vielleicht ist es bezeichnend, daß nicht ein Vertreter der Fachs, sondern der angesehene Physiker Lewis M. Branscomb, ehemals Forschungschef der IBM, das kritische Potential der Geographie auf den Begriff brachte. In einem fiktiven Rückblick aus dem Jahr 2006 schrieb er: „Im Jahre 2000 erkannte man, daß die moderne Geographie eine integrierte Perspektive der Menschen und ihres Planeten bietet, daß sie Ökologie, die Untersuchung der menschlichen Lebenswelt, der Geomorphologie, Sozialanthropologie und Wirtschaft vereint - in Kürze, sie liefert alle notwendigen Werkzeuge und Techniken, zu verstehen, wie der Mensch seine fragile Planetenheimat zu sehen hat. Die Geographie wurde wieder zu einem wichtigen und beliebten Schulfach, besonders als man aufhörte, von Schülern zu verlangen, sich Hauptstädte und Karteninhalte zu merken. Die Leute trugen derartige Informationen in ihrem Taschencomputer mit sich.“

PD Dr. Beate M.W. Ratter ist seit Februar 2000 Privatdozentin am Institut der Geographie der Universität Hamburg.

(Danke für Ihre Erlaubnis, den Artikel hier zu veröffentlichen.)

Inhalt und Design by Andrea
Februar 2001
Diese Seite ist Teil eines Framesets - www.amleto.de -